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Die Zukunft wird heute gebaut

Die Zukunft wird heute gebaut

Die Siedlung «Alte Schmitte» in Güttingen TG zeigt, dass klimapositives Bauen schon heute möglich ist, denn sie kompensiert mehr Emissionen als Bau und Betrieb verursachen.

Energiezukunft

Text und Fotos: Michael Staub

Eine ehrgeizige Vision für den Schweizer Gebäudepark sind «klimapositive Plusenergiehäuser». Dies sind Gebäude, die erstens mehr CO2 kompensieren, als sie verursachen, und die zweitens mehr Energie produzieren, als sie selbst beziehen. Kann ein dermassen ambitioniertes Projekt gelingen? In Güttingen, einem lauschigen Dorf im Thurgau zwischen Kreuzlingen und Romanshorn, deutet alles auf ein «Ja» hin. Hier entsteht die Siedlung «Neue-Alte Schmitte». Mitten im Dorfkern ragen neben der alten Schmiede vier neue Mehrfamilienhäuser in den Himmel. Bei einem Haus montieren zwei Spengler gerade gewellte Alubleche, die als Hintergrund von Photovoltaik-Modulen dienen werden. Ein Haus weiter schneiden drei Zimmerleute die letzten Latten für eine Fassadenschalung zu.

Vorwärtsbauen
Auf der Fläche zwischen den Häusern, die in wenigen Monaten der Begegnungsplatz der Siedlung werden wird, steht Giuseppe Fent. Der Architekt SIA engagiert sich seit rund 40 Jahren für eine andere Art des Bauens. «1976, während meiner Ausbildung am Technikum, wurde mir bewusst, dass wir in der Bauwirtschaft eigentlich nur Umweltverschmutzung produzieren. Seither versuche ich, anders zu bauen», sagt Fent. Einerseits verfolgt er dieses Ziel als Architekt, andererseits als Erfinder und Entwickler der aktiven Solarfassade «Lucido». In Güttingen trägt er deshalb mehrere Hüte gleichzeitig: Seine Firma ist Bauherrin, die Giuseppe Fent AG zeichnet verantwortlich für die Architektur, und alle vier Neubauten sowie die beiden Bestandesbauten werden mit der «Lucido»-Fassade ausgerüstet. Diese haben Fent und seine Mitstreiter mit der Lucido Solar AG entwickelt und vermarktet. Zusammen mit den vollflächigen Solardächern, der äusserst dichten Gebäudehülle und der sparsamen Erdsonden-Wärmepumpenheizung sorgt die Fassade für traumhafte Energiekennziffern (siehe «Wissen»). Doch über technische Details zu sprechen, sei gar nicht nötig, meint Giuseppe Fent. «Die ständigen Diskussionen über Nachhaltigkeit in Medien und Politik sind überflüssig. Wenn wir nachhaltig bauen, tut es uns einfach gut, in jeder Hinsicht.» Die technische Nachhaltigkeit, also das Argumentieren mit Kilowattstunden, Energieeffizienz oder Lebenszykluskosten, sei «lustig für Fachleute, aber nicht für alle Menschen interessant», sagt der Architekt. Viel wichtiger sei die soziale Nachhaltigkeit: «Wenn wir klug bauen, wenn die Siedlung nicht nur technisch, sondern auch im Zwischenmenschlichen funktioniert, entsteht hier eine Gemeinschaft aus zufriedenen Mietparteien. Diese soziale Nähe ist fördernd und wichtig. Dann funktioniert das ‹Dörfliche›. Und wer zufrieden ist, zieht nicht so schnell um. Wir gewinnen alle, ob Mieter- oder Vermieterschaft.»

Die «Lucido»-Fassade produziert Solarstrom und sorgt in Güttingen auch für die Vorerwärmung der Frischluft.
Zwei Spengler montieren Alubleche, auf welche in einem zweiten Schritt Solarmodule folgen.

Sicherheit, nicht Risiko
Auch die Kostenfrage ist für Giuseppe Fent ein Nebenschauplatz: «Für diese Siedlung investieren wir ein Volumen von mehr als 17 Millionen Franken. Gewisse CO2-Emissionen können wir nicht vor Ort kompensieren, deshalb unterstützen wir ein Baumpflanzungsprojekt in Uganda. Das kostet 60 000 Franken. Über diesen Betrag reden wir gar nicht mehr. Wir machen es einfach.» Viel wichtiger als die ständige Bedenkenträgerei sei es, klug zu planen und von Anfang an auf Nachhaltigkeit zu setzen: «Unsere Mietparteien können den Strom vom Dach beziehen und bezahlen dafür 20 Prozent weniger als beim Elektrizitätswerk. Das ist alles freiwillig. Und trotzdem ist – Stand heute, das heisst vier Monate vor dem Bezug – bereits die Hälfte aller Wohnungen fest vermietet.»
Die sehr grosse, in Augen traditioneller Immobilienentwickler vielleicht gar überdimensionierte Photovoltaik-Anlage betrachtet Giuseppe Fent denn auch «als Chance und sicher nicht als Risiko. In Zukunft werden wir mehr Strom brauchen, nicht weniger.» Auch deshalb wird mindestens die Hälfte der Einstellhallenplätze für Ladestationen vorbereitet. Interessanter als die ganze Technik findet der Bauherr aber die Umgebungsgestaltung: «Was mich hier besonders interessiert, ist der sommerliche Wärmeschutz in der Umgebung. Wir sammeln mit vier grossen Zisternen das abfliessende Wasser vom Nachbarhang. Dieses Wasser wird dann verteilt und wir bringen insgesamt rund 100 Kubikmeter Pflanzenkohle in den Boden ein. So kann das Wasser relativ lange gespeichert und dann schrittweise wieder abgegeben werden. So wird die Überbauung keine Hitzeinsel, sondern eher eine kühlende Insel.»

Architektur
Die Vision klingt verlockend. Doch wie gelingt ihre Umsetzung? Nun gibt Fabrice Bär Auskunft. Der 29-jährige Architekt FH arbeitet seit zwölf Jahren im Büro von Giuseppe Fent und wird in den nächsten Jahren schrittweise die Geschäftsführung übernehmen. Bär führt in die Musterwohnung und erläutert das Konzept: «Diese Häuser sind als Holzelementbau konstruiert. Der Treppenhauskern ist betoniert, für die Geschossdecken verwenden wir vorfabrizierte Lignatur-Elemente.» Die Aussendämmung besteht aus 16 Zentimetern Steinwolle und einer Gipsfaserplatte für die Winddichtigkeit. Darauf folgt die solaraktive «Lucido»-Fassade (6 Zentimeter stark). An vielen Stellen wird kein normales Glas, sondern ein Photovoltaik-Element verbaut. Durch das Glas und die Luftschicht dahinter habe man quasi einen Wintergarten-Effekt, erläutert Fabrice Bär: «Die Temperaturdifferenz wird dadurch geringer, und wir erreichen viel bessere U-Werte als mit einer konventionellen Fassade.» Die solaraktive Fassade sorgt also nicht nur für eine gute Dämmung, sie produziert auch Strom. Und in Güttingen übernimmt sie noch eine dritte Funktion. «Wir haben in den Wohnungen nur noch reine Abluftanlagen eingebaut. Die Frischluft wird über Solino-Einlässe von aussen bezogen und strömt via «Lucido»-Fassade ein. So haben wir eine Vorerwärmung, wie sie auch Minergie-P vorsieht, können aber auf das Erdregister verzichten», berichtet Fabrice Bär. Was die Mieter besonders freuen dürfte: Anders als bei konventionellen Komfortlüftungen können die Filter jederzeit selber entnommen und einfach im Geschirrspüler gereinigt werden. Die gesammelte Abluft wird in jedem Haus in den Technikraum im Keller geführt. Mittels einer Abluft-Wärmepumpe kann die Energie für die Erwärmung des gesamten Brauchwarmwassers genutzt werden.

Beim händischen Zuschneiden der Alubleche ist exaktes Handwerk gefragt.

Zukunftsfähige Architektur
Speziell sind die liebevoll ausgebauten «Wohnbalkone», denn der Aussenraum soll in der warmen Jahreszeit als zusätzliches Zimmer dienen. Das zeigt der hochwertige Ausbau: Die Fugen der Feinsteinzeugplatten, welche im Wohnzimmer verlegt sind, laufen denn auch auf dem Balkon durch. Warmes Holz prägt Wände und Decke, eine Arbeit des Zimmerers Hermann Nenning aus Bregenz (AT). Wer vom Balkon aus die umliegenden Häuser ins Auge fasst, bemerkt die ungewöhnlich grossen Vordächer. Für sie gibt es gleich zwei Gründe: Einerseits dienen sie dem Objektschutz, denn sowohl Hitzewellen als auch lange Phasen mit Starkniederschlägen werden in Zukunft noch häufiger werden. Andererseits geht es auch hier wieder um das Dörfliche: «Dächer, die sich beinahe berühren, enge Gassen, weite Plätze – wir ziehen diese Idee wirklich durch», sagt Bär. Anfang Dezember sollen die Wohnungen bezogen werden. Giuseppe Fent freut sich auf das fertige Projekt: «In den letzten Jahren haben wir viele Bausteine entwickelt. Hier kommt zum ersten Mal alles zusammen. Das ist unser erstes klimapositives Bauprojekt, aber sicher nicht das letzte.» Und Fabrice Bär ergänzt: «Wir Architekten neigen zum Spezialistentum. Das ist die falsche Richtung. Wir müssen uns um viele Themen kümmern und diese von Anfang an in den Entwurf aufnehmen. Dann klappt es auch mit der Umsetzung.»

Michael Staub, Journalist BR

Teamwork: Fabrice Bär und Giuseppe Fent.
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